Philipp Baum, B.A.

Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zur Deponierung von Abfällen in der Bergbau- und Chemieregion "Chemiedreieck" zwischen Halle (Saale), Bitterfeld-Wolfen und Merseburg

Gesellschaftliche Aushandlungen über Ressourcen und Abfälle finden vor dem Hintergrund einer drängenden Überschreitung dessen statt, was von Rockström et al. (2009) als “planetare Grenzen” bezeichnen, nämlich den Verlust der Biodiversität, den Klimawandel und weiteren Prozessen. Kim Fortun weist mit ihrem Konzept der “Quotidian Anthropocenes” auf die Verflechtung dieser planetaren Systeme mit den im Alltag beobachtbaren Phänomenen hin. Fortun charakterisiert die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse als “late industrialism” (2014), bei dem die Auswirkungen und Defizite der industriellen Produktion immer offensichtlicher werden. Es stellt sich die Frage, wie die durch die Industrie verursachten Nebenprodukte der Produktion wie Luft- und Wasserverschmutzung sowie der anfallende Müll verteilt werden. Steve Lerner (2012) kritisiert, dass Umweltlasten oft vorrangig die bereits benachteiligten Bevölkerungsgruppen treffen. Dies geschieht teilweise durch spektakuläre Unfälle, aber oft auch durch schleichende Prozesse, die Rob Nixon als “slow violence” bezeichnet.

In jeder industriellen Produktion fällt Abfall an. Trotz der Bemühungen der Europäischen Union, der Bundesregierung und des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren, müssen weiterhin neue Deponien errichtet werden. Diese Deponien dienen zur Lagerung von Abfällen, die entweder technisch nicht recycelbar sind oder deren Wiederverwendung nicht wirtschaftlich durchführbar ist. Das Chemiedreieck zwischen Halle (Saale), Merseburg und Bitterfeld kann auf eine lange Geschichte von Bergbau und Chemieproduktion zurückblicken. Neben den herkömmlichen Abfällen, die überall anfallen, müssen hier auch die Altlasten des Kali- und Kohlebergbaus sowie der Chemiestandorte Schkopau, Leuna und Bitterfeld-Wolfen verwaltet werden. Die Deponierung von Abfällen erfolgt teilweise in ehemaligen Bergwerken oder auf dem Gelände ehemaliger Tagebaue. Dabei werden auch Abfälle aus anderen Bundesländern und teilweise aus anderen EU-Ländern nach Sachsen-Anhalt importiert.

Ein Netzwerk von Bürgerinitiativen (https://wir-für-sachsen-anhalt.de/) kritisiert diese Praxis. Sie werfen die Frage auf, ob der Import von Abfällen eine gerechte Verteilung der negativen Folgen der industriellen Produktion darstellt. Zudem kritisieren sie, dass die Sicherheit der Deponie-Standorte nicht ausreichend überprüft und überwacht wird. Die Unternehmen, die die Deponien betreiben, argumentieren, dass sie eine unvermeidliche Aufgabe der öffentlichen Daseinsfürsorge übernehmen. Konflikte zwischen den Entsorgungs- und Bauunternehmen, den Bürgerinitiativen sowie den Umwelt- und Verwaltungsbehörden betreffen in erster Linie die Sicherheit der Standorte und das Risikomanagement toxischer Substanzen sowie andere Belastungen für die Anwohner*innen, wie beispielsweise Staubverwehungen.

Dieses Forschungsprojekt untersucht, wie sich die Bürgerinitiativen Wissen über die Risiken der Errichtung und des Betriebs der Deponien aneignen, welche Formen des Protests sie wählen und wie ihr Engagement ihre Wahrnehmung demokratischer Beteiligungsprozesse und politischer Einstellungen prägt. Dabei wird auch reflektiert, in welcher Form sich das als “Public Anthropology” verstandene Projekt in die Debatten einbringen kann und welche Effekte dies hat.

Zur Beantwortung dieser Fragen führe ich eine kollaborative Forschung mit Personen aus dem Netzwerk der Bürgerinitiativen durch. Neben Interviews und Go-alongs erfolgt auch eine Teilnahme an Netzwerktreffen und öffentlichen Veranstaltungen der Bürgerinitiativen. Mithilfe von problemzentrierten Essays zu Deponie-Standorten auf der Plattform für Experimentelle und Kollaborative Ethnographie (PECE), die auf Grundlage des Inputs der Bürgerinitiativen gestaltet werden, erfolgt ein Dialog über die Diskurse, mit deren Hilfe die Bürger*innen ihre Lage beschreiben und in deren Rahmen sie ihre Handlungsoptionen sehen.

Email: philipp.baum@student.uni-halle.de

Literatur

Fortun, Kim. 2014. From Latour to Late Industrialism. HAU: Journal of Ethnographic Theory 4 (1): 309-329.

Fortun, Kim, James Adams, Tim Schütz, and Scott Gabriel Knowles. 2021. Knowledge infrastructure and research agendas for quotidian Anthropocenes: Critical localism with planetary scope. The Anthropocene Review 8 (2):169-182.

Lerner, Steve. 2012. Sacrifice Zones: The Front Lines of Toxic Chemical Exposure in the United States. MIT Press.

Nixon, Rob. 2011. Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Harvard University Press.

Rockström, Johan, Will Steffen, Kevin Noone, Åsa Persson, F. Stuart Chapin, Eric F. Lambin, Timothy M. Lenton, Marten Scheffer, Carl Folke, Hans Joachim Schellnhuber, Björn Nykvist, Cynthia A. de Wit, Terry Hughes, Sander van der Leeuw, Henning Rodhe, Sverker Sörlin, Peter K. Snyder, Robert Costanza, Uno Svedin, Malin Falkenmark, Louise Karlberg, Robert W. Corell, Victoria J. Fabry, James Hansen, Brian Walker, Diana Liverman, Katherine Richardson, Paul Crutzen, and Jonathan A. Foley. 2009. A Safe Operating Space for Humanity. Nature 461 (7263): 472-475.