Janine Hauer, M.A. (Wissenschaftliche Mitarbeiterin)

Alltag zwischen Chemie und Deponie: Ethnographische Perspektiven auf die (Kehr)Seiten industrieller Moderne

© Philipp Baum

Wechselvolle Geschichte(n) um (De)Ressourcifizierungsprozesse prägen die Landschaften und das Leben im heutigen Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Erze, Salze, Kies und Kohle brachten Wohlstand und befeuerten die Industrialisierung im sogenannten Mitteldeutschen Chemiedreieck – und mach(t)en die Region zugleich zu einem erschreckenden Beispiel umweltzerstörerischer Folgen sowie sorgfältiger „Rückkehr zur Natur“ und Innovation.

In unserer Forschung spüren wir unterschiedlichen Aspekten dieser Geschichten anhand von konkreten Beispielen nach. Im Mittelpunkt steht für uns dabei die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit den (zukünftigen) Hinterlassenschaften des modernen Lebens. Wie durchdringen und beeinflussen die Reste, Überbleibsel und Abfälle unserer Lebensweisen die Bedingungen unseres vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen In-der-(Um)Welt-Seins? Wie wird dieser Umgang gerahmt, organisiert, geplant, verwaltet, umgesetzt und gestaltet und welches Wissen liegt diesem Umgang zugrunde bzw. wird durch ihn generiert? Unsere Forschung zielt darauf ab das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Industrie sowie Wissenschaft und Entwicklung zu beleuchten und anhand konkreter Konstellationen und Dynamiken verstehbar zu machen, um damit einen Beitrag zu aktuellen Debatten um Mensch–Umwelt Beziehungen im sogenannten Chemischen Anthropozän (Arcuri and Hendlin 2019) zu leisten.

Wir nähern uns diesen Fragen anhand ethnographischer Fall- und Feldforschung am Schnittfeld von Sozial- und Kulturanthropologie, Humangeographie sowie Wissenschafts- und Technikforschung und verbinden zeitliche und räumliche Perspektiven miteinander. Unser Interesse gilt dabei gleichsam dem Un/Sichtbaren: den Oberflächen und landschaftlichen Formen, den Leuchtturmprojekten und gesellschaftlichen Bewegungen; dem Untergrund, den Hohlräumen, den buchstäblichen Kehr-Seiten regionaler Entwicklungsdynamiken sowie deren weit reichenden Verbindungen und Verästelungen.

Wir verfolgen dazu zwei komplementäre Forschungsstränge.

Erstens widmen wir uns dem Umgang mit dem (toxischen) Erbe des Ressourcenreichtums der Region: ober- wie unterirdische Ab- und Bergbaufolgelandschaften werden zunehmend zu Auffangbecken und dauerhaften Verschlusseinrichtung für (toxische) Abfälle und Ewigkeitslasten transformiert (Kearnes and Rickards 2017; Reno 2016). Dahinter stehen komplexe Planungs-, Regulierungs-, Verwaltungs- und Entscheidungsprozesse auf unterschiedlichen Maßstabsebenen. Ausgehend von konkreten Orten des Be- und Verhandelns von Deponaten und Deponien zeichnen wir diese Prozesse nach und entwirren die Strukturen und Praktiken, die den Umgang mit diesen unlösbaren wie unlöslichen Problemen prägen.

Diese Forschung basiert insbesondere auf einer Kooperation mit einem Netzwerk von Bürger*inneninitiativen, die sich gemeinsam gegen verschiedene Deponie-Projekte zur Wehr setzen. Obwohl sie die Notwendigkeit von Deponien als gegenwärtige und zukünftige Hyperobjekte (Morton 2013) modernen Lebens anerkennen, stellen sie sich gegen die ausufernden Dimensionen und unzureichende Regulierung der Planung von Behandlungs- und Lagerungsanlagen. Im dem Szenario, dem die Initiativen entgegentreten, avanciert Sachsen-Anhalt zu einem europäischen Müllimportland, wobei die Lebensqualität sowie die öffentliche Gesundheit den wirtschaftlichen Interessen Einzelner geopfert werden. Die Initiativen setzen sich daher für einen Austausch von Informationen oder die Koordination von Aktionen ein um ihre Reichweite in Politik, Verwaltung und breite Öffentlichkeit zu erhöhen.

Zweitens nehmen wir die chemische Industrie als Schlüsselsektor in den Blick. Die Ausfälle chemisch-industrieller Prozesse der vergangenen Dekaden haben den Planeten bis an seine Belastungsgrenze und vermutlich darüber hinausgebracht (Persson et al. 2022). Zugleich spielen Technologien und Innovationen des Sektors eine Schlüsselrolle in politischen und wirtschaftlichen Strategien für den Strukturwandel sowie die Energiewende. Die Verteilung, Verbreitung sowie systemischen Langzeiteffekte industrieller Abfälle sowie Strategien zu deren Vermeidung und Verwaltung stehen im Mittelpunkt unserer Forschungsbemühungen im Herzen des Mitteldeutschen Chemiedreiecks.

Arcuri, Alessandra, and Yogi Hale Hendlin. 2019. “The Chemical Anthropocene: Glyphosate as a Case Study of Pesticide Exposures.” King’s Law Journal 30 (2):234-253. doi: 10.1080/09615768.2019.1645436.
Kearnes, Matthew, and Lauren Rickards. 2017. “Earthly graves for environmental futures: Techno-burial practices.” Futures 92:48-58. doi: https://doi.org/10.1016/j.futures.2016.12.003.
Persson, Linn, Bethanie M. Carney Almroth, Christopher D. Collins, Sarah Cornell, Cynthia A. de Wit, Miriam L. Diamond, Peter Fantke, Martin Hassellöv, Matthew MacLeod, Morten W. Ryberg, Peter Søgaard Jørgensen, Patricia Villarrubia-Gómez, Zhanyun Wang, and Michael Zwicky Hauschild. 2022. “Outside the Safe Operating Space of the Planetary Boundary for Novel Entities.” Environmental Science & Technology 56 (3):1510-1521. doi: 10.1021/acs.est.1c04158.
Reno, Joshua O. 2016. Waste Away: Working and Living with a North American Landfill. Berkeley, Los Angeles: University of California Press.