PD Dr. Ildikó Bellér-Hann & Jeanine Elif Dagyeli

Die mittelasiatische Handwerker-risala

Gefördert von der VolkswagenStiftung"Zwischen Europa und Orient - Mittelasien/Kaukasus im Fokus der Wissenschaft"

Dauer: 01.01.2005-31.12.2007

Die Handwerker-risala ist ein bekanntes Element der “traditionellen Arbeit”. “Handwerk” im Sinn der Texte schließt landwirtschaftliche Tätigkeit ein, so dass der entsprechende Ausdruck eigentlich “Erwerbstätigkeit” ist (ar., pers., turki kasb). Die sehr unterschiedlich umfangreichen Texte stammen aus den mittelasiatischen früheren Sowjetrepubliken, aus dem Autonomen Gebiet Xinjiang der Uighuren in der Volksrepublik China und dem nördlichen Afghanistan. Die bekannten Exemplare stammen hauptsächlich aus dem 19. Jahrhundert und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Gattung in ihrer Gesamtheit ist noch nicht untersucht worden. Es ist ebenfalls unklar, wann und auf welche Weise sie in den verschiedenen Staaten außer Gebrauch kam.

Die Texte geben Auskunft über den Schutzpatron des jeweiligen Handwerks, sie sind Garantie dafür, dass die ausgeübte Tätigkeit im religiösen Sinn erlaubt ist usw. Informationen über die technische Seite der Produktion sind eher selten anzutreffen. Wohl aber erlauben die Texte Schlüsse auf die Sicht der Arbeit z.B. anhand der Terminologie oder der in ihnen ausgedrückten Hierarchie der Wertschätzung bestimmter Branchen. Weiter können die Texte Aufschluss über die soziale Organisation der Arbeit geben, so etwa über die Hierarchie der Tätigen, der Ausbildung usw.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR (und in gewisser Weise seit dem Ende der Kulturrevolution in der VR China) ist in den entsprechenden Ländern eine Rückbesinnung auf “Tradition” unverkennbar. Hierzu gehört auch eine gewisse Traditionalisierung des Handwerks. Das Projekt widmet sich einigen Aspekten der Frage nach der “Tradition” in Mittelasien. Im Kontext vor allem der UdSSR und Xinjiangs (Afghanistan kommt nur für die historische Forschung in Betracht) sind die örtlichen Formen der Weitergabe von Wissen und Handeln teilweise mehrfach politisch gebrochen. Dies relativiert den Begriff der “Tradition” weiter: Wenn heute etwa in Usbekistan an eine “Tradition” angeknüpft werden soll, in welche Periode werden die entsprechenden Handlungen dann projiziert: in die Zeit vor der Oktoberrevolution oder in die Zeit vor der russischen kolonialen Durchdringung? Haben Produktionstechniken und Organisationsformen des Handwerks, aber auch Formen der Weitergabe des Wissens sowie die Rede über Arbeit überhaupt lokal authentisch überleben können?

Das Thema eignet sich als sozialgeschichtliche Fallstudie der Wahrnehmung von Produktion und Arbeit. Das Projekt nimmt sich vor, die Texte selbst, ihre Geschichte und ihr Funktionieren im sozialen Kontext ebenso wie die entsprechenden Veränderungen in der Organisation der handwerklichen Produktion zu untersuchen. Es verbindet dabei die Methoden der Philologie, der Geschichtswissenschaft und in gewissem Maße der Ethnologie.

Jeanine Elif Dagyeli
Gott liebt das Handwerk. Moral, Identität und religiöse Legitimierung in der mittelasiatischen Handwerks-risâla.
Iran – Turan Band 12.
Reichert Verlag Wiesbaden 2011. Erfahre mehr über das Buch.